Wie das, was mir weh tut, ein Geschenk sein kann

 

“Puh,” was für eine Woche. “Was für ein Tag.” Ich bin vor meinen eigenen Frust geflohen. Jetzt sitze ich auf einer kleinen Anhöhe auf einem Stück trockenen gelb-braunen Magerrasen. Über mir weht der Wind durch die Nadeln einer Kiefer. Wie Johanna Spyri’s Heidi blicke ich nach oben und lausche dem beruhigenden Brausen der Wipfel. Das Land vor mir ist still. Ich höre weder das Rattern eines Zuges, noch die Motoren von Traktoren oder das ferne Brummen der Autobahn. Stattdessen dringt an mein Ohr ein Zirpen und Zwitschern und Trillieren, manchmal als Frage und Antwort, manchmal mehr als ein Lied. Das leuchtende Grün der Felder in der Ferne tut mir gut. Meine Augen trinken das tiefe Blau des Himmels, wie wenn sie einen großen Durst löschen müssten. Langsam entspanne ich. Was mich am meisten freut, ist, dass ich in einem kleinen Meer von Küchenschellen sitze.

Diese flaumigen, zartbehaarten, glockenförmigen lila Blumen berühren mich. Sie blühen nur wenige Tage. Seit einer Woche komme ich fast jeden Tag hierher. Jedesmal bin ich erstaunt, wie anders diese kleine Fleckchen Garten Eden aussieht. Was gestern in einem violetten Samtkleid blühte, ist heute schon kaum mehr sichtbar, weil es in seinem verblühten matschbraunen Gewand nicht mehr auffällt. Wie kann es sich Gott leisten, dass etwas nur ein oder zwei Tage blüht? Und wie kommt es, dass mich diese Küchenschellen so berühren?

Ich spüre, wie die Schönheit um mich herum, mich ruhig macht. Mein Frust und Ärger verebben. Und plötzlich kann ich wahrnehmen wie Gott sagt: “Hör mal, ich möchte dir etwas sagen.”
Dankbar nehme ich wahr, dass ich wieder in einer Verfassung bin, wo dies möglich ist, wo nicht die Angst mich alles, was ich wahrnehme, hinterfragen lässt. Ich konzentriere mich und lausche, was mein Sinn und mein Herz hört:

“Sieh dir noch mal die Küchenschelle vor dir an. Gell, du weißt, was dich daran berührt. Ihre Zufriedenheit. Ihre Annahme, dass sie nur einmal im Jahr so kurz blüht. Und dass ist es, was dir im Moment zu schaffen macht, ja was dich ärgert. Du möchtest blühen, etwas bringen, etwas leisten – und zwar dauerhaft und das geht nicht. Du schaffst nicht, was du gerne willst.”

Ich grinse. Das hat Gott super auf den Punkt gebracht. So wunderschön die Küchenschellen sind, so frustriert es mich, dass sie nur so kurz blühen. Mich frustriert die Botschaft, dass es okay ist, nur kurz zu blühen. Wie viele Andere möchte ich, die durch die Einschränkungen der Pandemiebekämpfung freigewordene Zeit nutzen, um Liegengebliebenes abzuarbeiten. Dass mir dafür die Kraft und Konzentration fehlt, ärgert mich. Und es ärgert mich, das andere schaffen, was ich nicht kann.

Ich blicke in die Weite der Landschaft und atme tief durch. Nur gut, dass ich von so beruhigender Schönheit umgeben bin. Nur gut, dass, ich gerade Gottes Nähe spüre und die Kraft habe, zuzulassen und hinzuhören, wer sich noch alles in meinem inneren Team meldet. Schon wieder meldet sich die Ärgerliche zu Wort: “Es ärgert mich, dass du dich mit anderen vergleichst. Es frustriert mich, dass du dir nicht die Zeit zugestehst, die du brauchst, um all die durch den Corona-Virus ausgelösten ständig neuen Veränderungen, zu verarbeiten.” Plötzlich bekommt die Ärgerliche Schützenhilfe von der Versteherin: “Du möchtest helfen, aber weißt noch nicht wie. Du möchtest schreiben, hast aber keine Kraft. Du brauchst Zeit, um zu spüren, ob du wieder als Krankenschwester arbeiten willst oder lieber in einem Gartenbaubetrieb aushelfen oder bei Aldi Nachschub auspacken und in die Regale stellen. Du brauchst Zeit, um zu spüren, was jetzt in dieser Krise dein Auftrag ist. Du fragst dich, ob deine Berufung noch immer gilt – auch jetzt in der Krise. Du fragst dich, wo du deine wenige Kraft hinlenken willst. In einen Job? Hauptsache Geld verdienen, wo du jetzt keine Seminar mehr halten kannst? Oder darfst du dich noch immer auf Menschen konzentrieren, die Gott, Stille und ihre Berufung suchen?

Ich schweige und schaue in die Landschaft. Und dann vernehme ich wieder diese ruhige klare innere Stimme, die sich für mich seit vielen Jahren als Stimme Gottes erwiesen hat. „Du fragst dich, ob es stimmt, dass ich dir die Aufgaben vor die Füße legen werde. Du fragst dich, ob du richtig gehört hast.“ Ich schiebe das Kinn vor und bejahe. Es ist so schwer zu warten, wenn andere schon aktiv werden.

Und dann wechselt Gott plötzlich das Thema: „Erinnerst du dich an die Lektion, die du über die Oasen in der Wüste gelernt hast?“ Oh ja, das tue ich. Wenn ich sie auch immer wieder aus den Blick verliere, ich erinnere mich genau:

Wir Menschen haben die Tendenz unsere Zelte in Oasen aufzuschlagen. Besonders in Wüstenzeiten, aber auch in guten Zeiten genießen wir es, wenn wir an Orten sind, wo es uns gut geht und wir das bekommen, was wir brauchen: Freundschaft, Liebe, Zugehörigkeit, materielle Sicherheit, Gesundheit, sichere Beziehungen, Autonomie, Wertschätzung, Zärtlichkeit, gebraucht werden, etwas schaffen und bewirken können, Freiheit, …
Gott liebt es, uns zu versorgen und uns Gutes zu tun. Bei all diesen Dingen, wenn wir sie haben oder wenn wir gerade etwas davon schmerzlich vermissen, können wir leicht vergessen:

Der Ursprung aller Dinge ist Gott. Er hat sie gemacht und er schenkt sie uns aus Liebe. Sie sollen Kanäle seiner Liebe sein und Wegweiser zum Geber, zu IHM, zu Gott.
Wir Menschen tendieren dazu, bei ihnen – den Dingen  unsere Zelte aufzubauen. Wir denken: Hier ist es schön. Hier will ich bleiben. Das will ich festhalten.

Wir erhoffen uns Liebe, Anerkennung und Erfüllung bei den Wegweisern. Indem wir aber bei den “Dingen” unsere Zelte aufschlagen , bleiben wir beim Kanal stehen. Doch dann sind sie nicht mehr Kanal. Es entsteht eine Co-Abhängigkeit zu ihnen. Und wir sind abgeschnitten von der Liebe Gottes. Wenn wir diese Dinge wieder Gott zu ordnen, werden sie uns wieder mehr wert. Gottes Liebe kann wieder durch sie zu uns fließen. Gleichzeitig werden wir unabhängig von ihnen, weil wir wissen: Gott wird mir seine Liebe und das, was ich brauche durch und ohne diese Dinge schenken.

Vierzehn Tage sind inzwischen vergangen, seit Gott mich erinnert hat, meine Zelte bei IHM und nicht bei den Oasen – den Geschenken und Kanälen seiner Liebe aufzuschlagen.

Tage, die für mich emotional sehr anstrengend waren, weil das, was ich am meisten vermisse, meine Freiheit ist. Gar nicht mal die Freiheit zu tun und zu lassen, was ich will, sondern die Freiheit einen anderen Menschen in einem zwei Meter Abstand ohne Handkontakt zu treffen. Ich habe jede Menge Wut, Fragen und Angst ausgehalten. Erst die Angst mich oder andere anzustecken. Die wich, als ich hörte und begriff: Wann und durch was ich heim zu Gott gehe, bestimmt alleine ER. Kein Corona, kein betrunkener Autofahrer, der mir die Vorfahrt nimmt, kein anderer Unfall oder Krankheit kann mir mein Leben nehmen. Seitdem bewege ich mich unbesorgt in einer wunderbaren Freiheit mit den nötigen Schutzmassnahmen.

Doch dann kam die Angst, was noch alles an staatlichen Verordnungen auf uns zu kommt, ob das Ganze nicht zu sehr aufgebauscht wird, wer die Krise wohl ausnutzen wird, was die Krise für die Wirtschaft und uns in der Zukunft bedeutet und ob wir unsere Freiheit zurückbekommen werden. Diese letztgenannte Angst war am schwierigsten zu handhaben. Da machte Gott etwas Wunderbares. Er lenkte mich ab und tat, was er versprochen hatte. Er legte mir Aufgaben vor meine Füße: Die Stunden in meinem Gartenjob wurden erhöht. So kann ich, weil ich zur Arbeit muss, fröhlich durch den Landkreis fahren.

Eine weitere Aufgabe, die mir Gott vor die Füße legte, war mein plötzlich an Krebs im Endstadium erkrankter Nachbar. Ihn durfte ich die letzten Wochen begleiten, bis er Anfang dieser Woche zu Gott heimgegangen ist. Oft sangen wir alte christliche Lieder. Ich wusste vorher nicht, wie schön sich eine Männer- und eine Frauenstimme zusammen anhören können.
Wer schon einmal jemanden begleitet hat, der nur noch palliativ (lindernd) behandelt werden kann, weiß, dass diese letzte Wegstrecke von AUF und AB´s, von Lichtblicken an Kraft und von zunehmender Schwäche, Schmerzen, Loslassen und Beschwerden begleitet ist. Mich hat es tief, tief berührt, wie Gott für diesen Mann sorgte.  Er stellte ihm liebevolle Kinder zur Seite, die ihm ein Sterben zuhause ermöglichten. Und immer an den kritischen Punkten, kam genau die richtige Person zur richtigen Zeit und half weiter. Neben all dem Staunen und wunderschönen Begegnungen kostet solch eine Begleitung auch Kraft, Oft fühlte ich eine tiefe Erschöpfung. Dann ließ mich Gott in der wundervollen hügelige Wald-, Wiesen- und Hügellandschaft meiner Heimat hier im Steigerwald auftanken. So viele Spaziergänge und Radtouren, oft dreimal täglich, habe ich noch nie gemacht.
Mit meinem Nachbar muss ich eine “Oase”, einen Menschen loslassen, der mir “Heimat” war. Er war der, den ich anrufen konnte, wenn ich unterwegs einen Platten hatte oder einen Unfall. Egal, was es war, er las mich auf, reparierte mein Rad, rückte die Traktoren in der Scheune zusammen, damit mein Auto bei einem Sturm noch hineinpasste oder goß meinen Garten und meine Blumen. Ich kenne keinen Menschen, mit dem ich mich so sehr gestritten und wieder versöhnt habe. Und durch ihn lernte ich Gott wieder vertrauen, dass es wirklich Menschen gibt, die nach Streits nicht dicht machen, sondern dass eine Versöhnung möglich ist.

Morgen ist Karfreitag – der Höhepunkt, wo Gott sich in Jesus den Menschen ausliefert und all das an Schmerzen, Verrat, Beschämung, Verspottung, Verlassenwerden, … erleidet was wir Menschen hier auf der Erde an Schlimmen erleben können. Ohnmacht, Ausgeliefertsein, Todesfurcht und unsagbares Gequältwerden und Gottesferne. IHN, Gott den liebenden Vater nicht mehr spüren. Und alles, damit wir uns in diesen Situationen nicht mehr alleine fühlen müssen und wissen:

DANN, WENN ICH OHNMÄCHTIG UND AUSGELIEFERT BIN UND GOTT NICHT MEHR WAHRNEHMEN KANN, DANN, WEN ER NICHT EINGREIFT, ER NICHT HILFT – DANN IST ER MIR IN CHRISTUS NAH.
Er weiß, wie es mir geht und er geht mit mir da durch, auch wenn ich ihn nicht spüren kann.

Was vermisst du gerade? Was frustriert dich? Welche Oase, welches Geschenk, welcher Mensch ist dir gerade genommen?

Von Herzen wünsche ich in dir in den kommenden Tagen, dass du deine geblockten Kanäle an Gott abgeben kannst und wahrnehmen kannst WO und WIE Gottes Fürsorge und Liebe anderweitig zu dir fließt.

Sei gesegnet

Andrea Kreuzer