Nur noch 365 Tage zu leben – Was würden Sie tun?

Kennen Sie das, dass das Leben Sie so beschäftigt hält, dass Sie für das, was Sie gerne leben oder in sich wachsen lassen möchten, keine Zeit haben?

Irgendwie scheint es einem unmöglich, aus dem Rad der Anforderungen, dem Bewältigen von Hindernissen, dem Verdienen des Lebensunterhaltes, dem Gebrauchtwerden, … auszusteigen. Da helfen oft auch weise Sätze wie “Das einzigste Mittel, Zeit zu haben, ist, sich welche zu nehmen” nicht weiter. Manchmal brauchen wir einen Schuss vor den Bug, um uns diese Pause zu gönnen. Das kann Krankheit sein, Schmerzen, Kündigung, Erschöpfung, Depression oder jemand, der uns nahe steht, stirbt. Manchmal ist es aber auch schlichtweg eine nicht weichende Unruhe, Traurigkeit oder Unzufriedenheit.

Vor ein paar Wochen bekam ich ein interessantes Mail, das eine Studie von 36 Fragen anpries, die Beziehungen verbessern und dazu führen, sich (neu) zu verlieben. Ich liebe gute Fragen und die Verheißung, dass der Austausch über diese Fragen, Beziehungen beleben, machte mich neugierig.

Immer mehr begeistert, manchmal grinsend, scrollte ich über die Fragen. Plötzlich stoppte ich bei Frage Nr. 20.

Wenn du wüsstest, du würdest in 365 Tagen sterben, würdest du etwas an deinem jetzigen Leben ändern? Wenn ja, warum?

Irgendwie ließ mich diese, für mich als Coach sehr bekannte Frage, nicht mehr los. Und eh ich mich versah, schnappte ich einen Zettel und schrieb auf, was ich leben würde, wenn ich nur noch 365 Tage hätte. Als ich neun Punkte vor mir sah, die ich leben würde, wurde ich nachdenklich, sehr nachdenklich.

Die Erkenntnis, dass da plötzlich so viele Dinge standen, die vor Jahren da noch nicht gestanden hatten, beunruhigte mich. All die Jahre hatte ich immer nach dem Motto gelebt, so zu leben, dass ich sterben könnte. Wann um Himmels willen hatte sich das geändert? Nun, mir fielen ein paar Ereignisse und Gründe ein. Einer davon war: Erfolg! Das Wachstum meiner Arbeit! Der Wille, davon leben zu können. Weitere Gründe: Anpassung an mein Lebensumfeld, an die Gesellschaft, …

Diese “neun Dinge, die ich sofort umsetzen würde, wüßte ich, ich würde sterben“, ließen mich nicht mehr los. Plötzlich spürte ich Sehnsucht und Trauer. Sehnsucht, sie zu verwirklichen. Traurigkeit, weil ich mir das unmöglich zugestehen konnte. Ja gar nicht wusste, woher ich die Kraft und Zeit nehmen sollte, sie umzusetzen. Ich hatte so viel anderes zu tun. Und wie um Himmels willen, sollte ich mir ein ganzes Jahr frei nehmen um mal all die Bücher zu schreiben, die ich gerne schreiben würde? Das ging nicht. Es ging einfach nicht.

Und dann machte ich einen Test. Ich fragte zwei Coaching-Kollegen, mit denen ich eine Gefährtenschaft bilde: “Was würdet ihr in eurem Leben ändern, wenn ihr nur noch 365 Tage hättet?” Ziemlich sprachlos stellte ich fest: Jeder von ihnen hatte gerade mal eine einzige Sache, die er ändern würde. Beide würden genau das leben, was sie gerade leben.

Das machte mich betroffen, sehr betroffen. “Was würdest du ändern?” fragten sie zurück. Ich holte tief Luft und sagte: “Okay, ich sage es euch, aber nur unter einer Bedingung. Denn ich fühle mich gerade hoch verletzlich. Bitte kommentiert mich nicht und vor allem sagt mir nicht: Setze es einfach um. Das schaffst du schon. Denn ich habe keine Ahnung, wie das gehen soll.”

Gebannt schaute ich drei Wochen später auf das Röntgenbild meiner Wirbelsäule. “Sehen Sie da unten die Verdichtung?” fragte der Arzt. “Ich empfehle ihnen ein MRT, damit wir genauer sehen, was da los ist.” Ich nickte und schwieg. Genau dort, wo der Arzt hinzeigte, hatte meine Mutter den Sitz Ihres Krebses im Knochenmark der Lendenwirbelsäule gehabt. Nur gut, dass ich auf das MRT nur einige Tage warten musste. Doch in diesen Tagen tat sich in mir eine Menge. Mir fiel meine Liste von 9 Punkten ein. War das jetzt der Ernstfall? Würde ich so schnell all die Punkte auf der Liste verwirklichen dürfen?

Das Telefon klingelte, “Guten Tag, hier ist Dr. L. Ich rufe an, wegen dem Ergebnis Ihres MRT´s.” Überrascht hielt ich die Luft an.  Was würde nun heraus kommen? Schon sprach die Stimme weiter: “Es ist soweit alles in Ordnung. An der besagten Stelle in der LWS haben Sie … ” Erleichtert und zugleich verwirrt lausche ich dem Arzt, frage nach der Therapie und dem weiteren Vorgehen.

Nach dem Anruf zieht es mich nach draußen. Jetzt brauche ich dringend einen Spaziergang. Tief atme ich durch. Die winterliche Kälte hilft mir, mich zu spüren und in meiner einsetzenden Erschlaffung nach all der Anspannung meine Lebendigkeit wahrzunehmen. Doch irgendwie bin und bleibe ich aufgewühlt. Und was ist das für ein komisches dumpfes Gefühl? Habe ich nicht allen Grund erleichtert zu sein? Plötzlich dämmert es mir: Ich bin traurig. Meine Seele ist traurig, weil ich nun keinen Grund, keine Entschuldigung habe, zielstrebig meine 9 Punkte umzusetzen.

“Autsch!” denke ich. “Autsch! Bin ich so sehr ein Kind meiner Zeit, dass ich eine Krebserkrankung brauche, um mir gestatten zu können, das umzusetzen, was mir im Moment wirklich wichtig ist? Das war Gottes Schuss vor meinen Bug. 

Wie ergeht es Ihnen? Haben Sie auch Dinge, die Ihnen eigentlich wichtig sind und Sie wissen noch nicht, wo und wie Sie das Rad der Anforderungen anhalten werden?

Michel Quoist, ein katholischer Theologe und Autor sagte folgendes:

Wenn du das Tiefste in dir ergreifen willst, musst du eine Pause machen können.

Den zweiten Verbündeten, den Sie und ich haben, ist Gott. Sein Anliegen ist es, dass wir Freude haben, das zu leben, was ER UNS an Sehnsucht ins Herz gelegt hat. Eines unserer  tiefsten Sehnsüchte ist es, zu lieben und geliebt zu werden. Nehmen Sie sich die Zeit dafür. Denn genau dafür hat er Sie geschaffen.

Andrea Kreuzer

 

If God doesn´t build the house, the builders only build shacks.
If God doesn’t guard the city, the night watchman might as well nap.
It´s useless to rise early and go to bed late, and work your worried fingers to the bone.
Don´t you know he enjoys giving rest to those he loves?

Ps. 127, 1 – 4 (The Message)